Predigt von Heribert Niederschlag SAC anlässlich der Heiligen Messe zum Andenken an P. Franz Reinisch

P. Heribert Niederschlag SAC

„Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Petrus hat sicher nicht gewusst, was er da sagt, und Jesus erklärt es ihm auch: „Das ist nicht von dir, das ist von meinem Vater.“ Wenn man es näher bedenkt, hat es Gott nicht leicht gemacht, ihn in seinem Sohn zu entdecken. Überhaupt scheint es nicht leicht zu sein, dass die Gegenwart Gottes erschlossen oder entdeckt wird. Denken wir nur an die Geburtsszene Jesu. Wo haben wir unsere Vorstellung, dass wir meinen, dieser Gottessohn könnte in einem Stall zur Welt kommen, wo Ochs und Esel ihren Platz haben, wo es übel riecht, wo auch viel Mist gemacht wird. Auch die Gegenwart Gottes in unserer Kirche zu entdecken, ist nicht immer leicht. In den letzten Jahren sind wir in der Kirche derart überschüttet worden von erschütternden Informationen, die tatsächlich den Kopf nur schütteln lassen. Mit großem Schmerz habe ich erst vor wenigen Tagen erfahren, dass sich im vergangenen Jahr 189.000 Katholiken von der Kirche abgewandt haben. Sie können sich nicht vorstellen, dass in dieser Kirche Gott gegenwärtig sein soll. Und trotzdem: Er ist es. Später – am Ende des Lebens Jesu – werden wir sogar erfahren, dass er zwischen zwei Verbrechern hängt, wo man Gottes Gegenwart auch nicht vermutet.

Es war auch für Franz Reinisch nicht leicht, die Spuren Gottes in seinem eigenen Leben zu entdecken. Er hat sich mehr tragen, ich möchte einmal sagen, mehr „schubsen“ und mal hierhin und dorthin bewegen lassen. Er war ständig unterwegs - mal hier, mal da. In Innsbruck wurde er zum Priester geweiht und schon ein halbes Jahr später tritt er in die Gemeinschaft der Pallottiner ein. Der Pallottinerpater Weickgenannt hatte ihm zur Weihe gratuliert und seinem Glückwunsch angefügt: „Er würde sich freuen, ihn einmal als Mitbruder begrüßen zu können.“ Dieser Satz bohrt und arbeitet in ihm. Schon ein halbes Jahr nach der Priesterweihe meldet sich Franz Reinisch bei den Pallottinern an. In seiner Zeit als Pallottinern setzt sich die Unruhe fort. Reinisch ist ein ungestümer Charakter. In der beginnenden Nazizeit gehört er zu denen, die laut sprechen, klar und eindeutig. Das hat die Oberen in äußerste Bedrängnis gebracht. Dann kommt die schwierige Zeit von 1941, als ihn am 1. März eine Postkarte erreicht: er solle sich bereithalten für den Wehrdienst. Ein Jahr sollte es noch dauern. Dann trifft ihn der Einberufungsbefehl. Es hat vorher schon in ihm gearbeitet, gebrodelt. Ihn treibt die Frage um: „Darf ich denn überhaupt auf Hitler, diesen Verbrecher den Eid leisten?“ Hitler ist für Reinisch ihn ein Satan: „Darf ich diesem Verbrecher ein gutes, ein heiliges Wort geben? Der kann mir ja Befehle erteilen, dass ich auf Unschuldige schieße.“ Dann lieber von Vorneherein den Eid verweigern. Ist es aber richtig, den Eid zu verweigern? Muss nicht Reinisch damit rechnen, dass die Pallottiner in Sippenhaft genommen werden? Vielen von uns Zeitgenossen ist nicht bekannt, dass Ende der 30er Jahre das, was hier an diesem Ort Schönstatt im Einklang und Zusammenwirken mit den Pallottinern gewachsen ist, die stärkste, dynamische Erneuerungsbewegung der katholischen Kirche in Deutschland war – und diese Bewegung ist gegen die Nazis ausgerichtet. Reinisch muss damit rechnen, dass der Gestapo mit seiner Verweigerung ein willkommener Vorwand geboten wird, um die Pallottiner wie Freiwild zur Strecke zu bringen. Das ist ihm bewusst. Aber sein Gewissen sagt ihm: „Du darfst den Eid nicht leisten!“. Als er den Einberufungsbefehl gelesen hat, geht er in die Gnadenkapelle. Dort betet er um Klarheit für seine Entscheidung. Ihm ist klar: Es geht um Leben und Tod! Viele raten ihm, den Eid zu leisten. Nur drei stehen zu ihm und stärken ihn, treu zu seiner Entscheidung zu stehen: Seine Eltern und der Gefängnispfarrer Heinrich Kreutzberg, der ihn in den letzten Wochen und Monaten begleitet hat.

Wie finden wir zu der inneren Wahrheit unseres Lebens? Wie entdecke ich die Spur, die ich tatsächlich auch gehen kann und soll? Mir selbst hat sich ein Weg aufgetan, als ich vor einigen Jahren von dem in den dreißiger Jahren bekannten Philosophieprofessor Peter Wust hörte. In einem kleinen Dörfchen im Saarland geboren, hat er schließlich den Lehrstuhl in Münster erhalten. Sein Hauptwerk trägt den Titel: „Ungewissheit und Wagnis“ (1937). Er hat die Zeitströmungen ins Wort gebracht und auch die Herausforderungen der christlichen Existenz. Sein Buch schließt mit einem Zitat von Goethe: „Wenn Du stille bist, wird Dir geholfen.“ Peter Wust erkrankt so sehr, dass er seinen Lehrstuhl aufgeben muss. Der Krebs befällt seine Zunge und seinen Gaumen. Die Studentinnen und Studenten bitten um ein wegweisendes Wort. Peter Wust schreibt es ihnen am 18. Dezember 1939. Er ist am 3. April 1940 gestorben. In seinem Abschiedswort schreibt er als Philosoph – man würde doch erwarten, jetzt folge ein flammendes Plädoyer für die Kunst der Reflexion. Gar nichts davon. Er bezeichnet das Gebet als „Zauberschlüssel“, der „das letzte Tor zur Weisheit des Lebens“ zu öffnen vermag. Nur ganz kurz öffnet er sich und deutet  die Wirkungen an, die er selber sicher im Gebet erfahren hat: „Das Gebet macht still, macht kindlich“ und – jetzt schreibt der Philosoph, „das Gebet macht objektiv.“ D.h.: es versetzt uns in die Lage, die Dinge so zu sehen, zu erkennen und zu deuten, wie sie wirklich sind. Denn unsere Vorstellungen von Menschen, auch von Geschehnissen um uns herum sind oft Verstellungen der Wahrheit. Ich will ganz kurz auf diese drei Wirkungen hinweisen.

„Das Gebet macht still.“ Bisweilen bin ich beunruhigt, wenn ich Jugendlichen begegne und auch Erwachsene und dabei wahrnehme, mit wie viel Lärm und Krach sie sich umgeben und in sich hineinlassen. Was muten sie ihren Ohren nicht alles zu. Nur, um nicht zu sich zu kommen. Karl Rahner bringt es auf den Punkt, wenn er kurz und knapp formuliert: „Die unangenehmste Fortbewegung ist das In-sich-gehen.“ Wem es aber gelingt, zur inneren Ruhe zu kommen und nicht nur den Mund zu halten, sondern innerlich in ein erfüllendes und erfülltes Schweigen hineinzuschwingen, der verändert sich. Bisweilen kommt es vor, dass auch ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht gerade dann, wenn ich in einen Terminwirbel hineingeraten bin. Dann versuche ich einzulösen, was einer der großen spirituellen Meister, Franz von Sales (1567-1622), der schon vor rund vierhundert Jahren gelebt hat, empfiehlt: „Wenn du keine Zeit hast, zieh dich eine halbe Stunde ins Schweigen zurück, außer du bist sehr beschäftigt, dann eine Stunde.“ Er wollte damit zum Ausdruck bringen: wenn wir nicht zu unterscheiden verstehen, was hier und jetzt wichtig ist, dann können wir mal dies tun, mal dorthin springen und viel Zeit vertun. Ich muss ehrlich gestehen: wenn ich mich in die halbe Stunde der Ruhe und des Schweigens hinein begebe und dann zurückkomme, bin ich innerlich verändert. Die innere Ruhe und Ordnung lässt spüren und erkennen, was nun zu tun ist und was getrost gelassen werden kann. Damit gewinne ich Zeit. Mir scheint: Einer der größten Nöte unserer Zeit liegt darin, dass wir zu wenige geistliche Meisterinnen und Meister habe, die uns spirituell begleiten und die Unterscheidung der Geister lehren. Der große tibetanische Weise Tarthang Tulku (in seinem Buch: Dynamik von Zeit und Raum: Wege zur Öffnung der Grenzen von Erkenntnis) wirft verallgemeinernd der westlichen Kultur vor, dass sie das Gespür für die Unterscheidung der Geister verloren habe. Unsere Erkenntniskanäle seien verstopft und wir wüssten nicht mehr, worauf es eigentlich ankomme und was wirklich wichtig sei. Das Gebet kann uns in jene innere Ruhe und Stille hineinführen, dass es uns befähigt, die Geister zu unterscheiden und auch die Kraft vermittelt, entschieden zu tun, was von uns gefordert ist.

„Das Gebet macht kindlich.“ Ich komme gerade aus dem Urlaub zurück, den ich den Bergen verbracht habe. Ich freue mich immer wieder, wenn ich eine Mutter oder einen Vater sehe mit einem Rucksack auf dem Rücken oder einem kleinen Tragesesselchen, wo ein Kind sitzt und vergnügt in die Gegend schaut. Das ist für mich häufig ein Bild, bei dem ich mir denke: Mein Gott, wenn du dieses Vertrauen in dir wachsen lassen könntest, dass du dich wie ein kleines Kind von der Mutter, von dem Vater tragen lässt. Denn ich verstehe vieles nicht, was um mich herum vorgeht, und etliches nicht, was in mir los ist. Aber: sich anvertrauen können, diesem Vater, von dem ich die Hoffnung habe, er trägt mich durch, er führt mich – das ist die große Kunst des Kindlichen. Wenn einer gesund und gerade wachsen und bleiben will, muss das Kind im Erwachsenen lebendig geblieben sein. Natürlich kennen wir aus der Bibel auch die Herausforderung, der sich nur ein Erwachsener stellen kann, dass uns Talente anvertraut sich, mit denen wir wucherisch umgehen müssen. Aber wir brauchen auch das kindliche Sich-anvertrauen können.

Pater Reinisch hat sich in dieses Vertrauen einzuüben versucht. Es hat ihm bisweilen auch den Atem verschlagen, wenn er auf seinen Entscheidungsweg blickte. Wie werde ich vor dem Richter dastehen? Ich habe mich in den letzten Jahren u.a. auch mit den so genannten „Nahtoderfahrungen“ beschäftigt. Dort berichten eine ganze Reihe von Komatösen, die wiederbelebt wurden, dass es eine Phase in der Nähe des Todes gebe, wo mit erschreckender Klarheit alles in uns wieder bewusst und erinnert wird, wie wir gelebt haben, was wir entschieden, gesprochen und was wir unterlassen haben. Wir werden vor uns selbst nicht davonlaufen können. Am tiefsten hat mich beeindruckt, dass plötzlich ein Wissen in uns aufleuchtet, das uns erkennen lässt, wie wir eigentlich hätten leben sollen und was das eigentliche Thema unseres Lebens ist, dass wir hätten „bearbeiten“ sollen. Diese Spannung zwischen dem, was das Thema unseres Lebens von uns einfordert, und wie wir tatsächlich gelebt haben, diese Spannung auszuhalten, braucht Vertrauen in die – wie Vinzenz Pallotti nicht müde wird, zu predigen – unendlich sich erbarmende Liebe Gottes. Zur Kunst der sogenannten „ars moriendi“, der Kunst Sterben zu lernen, gehört für mich, ein Vertrauen in mir zu wecken und es immer wieder neu zu erbeten, dass Gott sich von meinen Dummheiten, von meinen Fehler und Sünden oder von meinen Schwächen nicht abschrecken lässt, mich zu lieben. Er liebt und umfängt mich trotzdem oder gerade wegen meiner Hilflosigkeit und Schwäche. Sünde und Schuld, Leichtfertigkeit und Trägheit sind für Gott kein Grund, uns von sich zu stoßen. Er liebt uns trotzdem und empfängt uns mit offenen Armen, - wie den „verlorenen Sohn“. Wehe dem, der sich stolz verschließt und Gottes Liebe verweigert! Das ist die Hölle!

Das Gebet macht still, es macht kindlich und es macht objektiv. Es lässt mich innerlich wittern, geradezu erahnen, wo die Spur zu finden ist und wo das Licht der Wahrheit aufflackert. Franz Reinisch hat in bewundernswerter Klarheit schnell entdeckt, auf wen und auf was er sich nicht einlassen darf. Hier deckte sich seine Deutung und Einschätzung der nationalsozialistischen Ideologie mit der von Dietrich Bonhoeffer bis in die Formulierung hinein: „Deutschland wird wirklich von Verbrechern regiert und deswegen brauchen wir den Widerstand. Man kann nicht mit solchen Verbrechern Handel treiben, man kann sich nicht mit ihnen arrangieren. Entweder bin ich Nazi oder Christ. Ein Sowohl-Als auch ist ausgeschlossen.“ Die Konsequenzen durchgetragen zu haben, hat die letzten Kräfte von ihm gefordert. Als er gefragt wurde: Wie schaffst du das eigentlich, in der Todeszelle an Deinem Entschluss, den Eid zu verweigern, festzuhalten und mit 39 Jahren dein Leben hinzugeben? Seine Antwort zielt in die Richtung, dass Gott es von ihm wolle. Das Bewusstsein, Seinem Willen treu geblieben zu sein, genügt ihm. Er nahm sich nicht so wichtig, sondern legte sein Leben in die Hand dessen, der das Leben ist. Oben, vom Himmel her, kann er mit zwei Händen für uns wirken. Solange er auf Erden lebte, musste er sich mit einer Hand immer noch oben festhalten. Der Weg zur Treue und die Kraft, bis zum Schluss seine Entscheidung durchzuhalten, ist für ihn die Frucht des Gebetes. „Ja, das Gebet ist es, was mich innerlich hochhält“. Er ist in den einsamen Tagen und Nächten bisweilen in die furchtbaren Abgründe von Todesangst, von Unsicherheit und Ungewissheit hineingewirbelt worden. Aber das Gebet hat ihn immer wieder gestärkt und treu bleiben lassen. Und dieses großartige Zeugnis, dass selbst das Leben nicht der höchste und letzte Wert ist, sondern dass es einen noch höheren Wert gibt, nämlich meine Freiheit, das zu tun, was ich für gut und richtig halte und was ich als den Willen Gottes glaube. Das war bei Reinisch die Freiheit, die Entscheidung gegen Hitler, das heißt für Christus zu treffen. Und um dieser Freiheit willen hat er den Kopf hingehalten. Gebe Gott uns seinen guten und heiligen Geist, dass auch wir dazu fähig werden.

 

 

 


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